Orientierung durch Orthodoxe Dogmatische Erläuterung

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Kapitel 5 // Kapitel 7

 

Leben  im Leibe Christi  ( Einführung in die Orthodoxie )

 

6. Die «Dialektik» von Tradition und Erneuerung im Orthodoxen Verständnis


 

In unserer heutigen enthusiastisch nach vorn in die Zukunft gerichteten Zeit, hat der Begriff «Tradition» keinen guten Klang. Sie scheint sich der als notwendig angesehenen Erneuerung von Kirche und Gesellschaft widersetzen zu wollen. Unsere heutige Welt strebt nach Wechsel und Erneuerung in allen Bereicherl ihres Lebens. So ist es eine Selbstverständlichkeit, daß jede Tendenz zur Revolution und zum Umsturz der auf allen Ebenen bestehenden «Ordnung» als Erneuerungsprozeß verstanden und begrüßt wird. Die Tradition betrachtet man meistens als Erstarrung, als Sterilität, der jede Spontanität und Freiheit völlig fremd ist, während jeder Erneuerungsversuch fast immer als eine das absolute Wohl der Menscheit in sich tragende Entwicklung charakterisiert wird. Eine solche Tendenz herrscht in der Motivation des heutigen Menschen.

Wir müssen aber im voraus sagen, daß der Schein auch in diesem Fall trügt. Die Tradition ist nicht immer schlecht und die Erneuerung nicht immer gut. Selbst die revolutionärsten, zukunftorientierten Bewegungen unserer Zeit sind ohne Tradition gar nicht denkbar. Menschliches Leben ohne Tradition, ohne Grundlagen also, ist offenbar gar nicht möglich. Keiner fängt vom Nullpunkt mit sich selbst an!

Meine Aufgabe hier besteht darin, die Art und Weise der «Dialektik» bzw. Komplementarität von Erneuerung und Tradition im Leben der Orthodoxie darzustellen. Ich werde mich darauf be ******************* den Begriffe zu geben, und zweitens ihre Verbindung im Leben der (orthodoxen) Kirche zu unterstreichen.

 

1. Das Wesen der Tradition

Tradition ist das Leben der Kirche als Leibes Christi schlechthin, das als eine ununterbrochene Kontinuität zu betrachten ist. Denn die Kirche ist ein lebendiger Organismus, dessen Leben sich nicht nur horizontal, in einer Zeit, sondern auch vertikal, in allen Zeiten, bis zum Ende der Geschichte erstreckt. Diese Kontinuität der kirchlichen Lebensweise in allen Zeiten ist keine Weitergabe eines «toten» Zeugenberichts, sondern ein Lebenszusammenhang, nämlich die kirchliche Gemeinschaft, in der das Christusgeschehen lebendige, vom Geist getragene Gegenwart ist. Tradition ist das Weiterexistieren des von Gott durch Christus in die Welt eingeführten göttlichen Lebens, des Christuslebens, das sich in der Person der Heiligen in der Welt wiederspiegelt.

Die Kirche ist das Weiterleben und die Erfüllung des menschgewordenen Wortes Gottes, eine lückenlose Kontinuität also des im menschlichen Fleisch inkarnierten göttlichen Lebens in der Person des Sohnes Gottes, d.h. der ewigen und ungeschaffenen göttlichen Weisheit, die nicht als eine abstrakte Lehre, sondern als eine konkrete und lebendige Person, als der Gottmensch Jesus Christus, in dieser unserer Welt erschienen ist und gelebt hat. Kirchliche Tradition und Kontinuität der Identität der Kirche gehören zusammen, denn beide sind keineswegs das mechanische Weitergeben eines unwandelbaren Bündels von «wahren Sätzen», sondern sie sind ein kontinuierliches Weitergeben (traditio = trans + do) des ewig in der Kirche als Seinem Leib lebenden Sohnes Gottes.

Nach dem Heiligen Vater Irinäus von Lyon, der in der orthodoxen Patristik als «Theologe der Tradition» par excellence bekannt Ist, ist es nur in der einen Kirche möglich, die Tradition Christi und der Hl. Apostel ausfindig zu machen und historisch zu beweisen, da die Kirche selbst die echte Tradition Christi ist. Es ist bemerkenswert, daß nach seiner Ansicht die lebendigen Zeugen der Tradition, die auch Träger der Tradition sind, für die Kirche von größerer Bedeutung sind als die Heilige Schrift, weil sie als Garantie für die echte Tradition stehen. Trotz der vielen Unterschiede der in der ganzen Welt zerstreuten Lokalkirchen gibt es nach ihm eine wesentliche Einheit der Tradition, die sich als Glaubens  und Lebenseinheit ausdrückt. Die Vielfalt der Sprachen, Mentalitäten, Kulturen u.s.w. kann diese Traditionseinheit nicht zerstören. Das hat die alte Kirche vielmals bewiesen.

Tradition wird bei Paulus als das ununterbrochene Empfangen und Weitergeben von Christus verstanden. Genau diesen Sinn haben seine Worte an die Korinther: «Ich habe überliefert [...] was ich selbst (durch Überlieferung) empfangen habe» (1 Kor 15, 3). Die Kirche lebt in der Welt, damit sie in allen Zeiten Zeugnis für ihren Christus ablegt, wie Christus selbst in die Welt gekommen ist, «um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen» (Jo 18, 37). Das ist das Ergebnis einer innigsten Notwendigkeit im Leben der Kirche, die folgendermaßen ausgedrückt werden kann: Jede Generation, die sich in die Kirche integrieren läßt, soll den wahren Christus empfangen, damit auch sie die Möglichkeit hat, in Christus gerettet zu werden und Ihn unverändert und unverfälscht den nachkommenden Generationen weiterzugeben. Dieser Akt, der das Traditionsgeschehen am besten ausdrückt, wird im zentralsten Ereignis des kirchlichen Lebens symbolisch dargestellt. Bei der Cheirotonie (Handauflegung) des Presbyters, und zwar sofort nach der Konsekration der Heiligen Gaben, gibt der Bischof das Heilige Brot, das Christus geworden ist (d.h. das in Christus verwandelte Hl. Brot), in die Hand des neugeweihten Priesters und spricht folgende Worte: «Nimm dies anvertraute Gut und bewahre es...». Einen eloquenteren Ausdruck des Traditionsereignisses im Leben der Kirche könnte es nicht der Katholizität der Kirche verbunden. Katholizität in ihrem  ******************* geben!

Die kirchliche Tradition ist darüberhinaus auch engstens mit und Ganzheit des überlieferten kirchlichen Glaubens und Lebens zu verstehen ist. Die Kirche bleibt in allen Zeiten katholisch, wenn sie die von Christus und in Christus geoffenbarte Wahrheit bewahrt und ihr treu bleibt. Da sich aber diese kirchliche Wahrheit als Leben bzw. Existenzweise ausdrückt, bleibt die Kirche (als Gemeinde) katholisch, wenn sie Christusgemeinschaft (communio sanctorum) bleibt. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn der ganze Christus (totus Christus) in ihr lebendig bleibt, und zwar als «der Weg, die Wahrheit und das Leben» (Jo 14, 6), also als Anbetung im Geiste, als echtes Glaubensgut und als gottgewollte Lebensweise. Ist der Christus, den eine Ortskirche weitergibt, nicht «totus» (ganz), dann ist diese Gemeinde nicht mehr katholisch und ihr Leben nicht mehr kirchliche Tradition. Die Tradition der Kirche wird durch ihre Katholizität gesichert, während die Katholizität der Kirche in ihrer Tradition lebendig bleibt.

Aus dem bisher Gesagten geht ganz klar hervor, daß das Überlieferungsgeschehen nur in der echten Kirchengemeinschaft möglich ist, d.h. in dem einen Leib Christi. Außerhalb des Leibes Christi, nämlich in den Häresien, kann die kirchliche Tradition nicht überleben. Die verschiedenen Häresien haben ihre eigene Tradition, die aber mit der Tradition der Kirche nicht identisch ist. Sie ist die «falsche Tradition», von der die Kirchenväter und besonders der Hl. Irinäus, sprechen. Mit Recht hat Paul Evdokimov geschrieben: «Die Offenbarung, die uns ein für allemal gegeben ist, wird von der Kirche in jedem Moment der Geschichte weitergegeben, und so ist sie die ununterbrochene Kontinuität eines einzigen Aktes, die durch die Tradition gesichert wird».

Wo wird aber die kirchliche Tradition verwirklicht und woran ist sie erkennbar? Das Weiterexistieren des «Lebens Christi» erscheint in der Geschichte in seiner ganzen Fülle und Breite im Wort und Leben der Heiligen, der treuen Schüler Christi und echten Kinder der Kirche. Das Leben der Heiligen (Kirchenväter und Kirchenmütter) in seiner ganzen Fülle schafft die gerade Linie der kirchlichen Tradition in der Geschichte. Deswegen ist eine Kirche ohne Heilige unvorstellbar!

In diesem Zusammenhang können wir verstehen, wie man der kirchlichen Tradition teilhaftig werden kann. Das kann selbstverständlich nicht rationalistisch geschehen. Es handelt sich nicht um eine Aktion der menschlichen Vernuft. Anteil an der kirchlichen Tradition nehmen wir natürlich auch nicht mit deren wissenschaftlichen Studium. Nicht die zum Rationalismus tendierende kritische Einstellung ihr gegenüber, sondern das demütige Teilnehmen am Leben der Kirche ermöglicht uns den Zugang zur kirchlichen Tradition. Man kann die kirchliche Tradition nicht lernen, sondern nur in der kirchlichen Tradition leben. Nur derjenige, der mit seiner ganzen Existenz in der asketischen Erfahrung der Kirche lebt, kann die Tradition der Kirche erleben. Selbst der Weg des theologischen Denkens führt in der Orthodoxie durch die asketische bzw. geistliche Erfahrung hindurch! Eine richtige Erfahrung der orthodoxen Tradition macht man nicht in einer theologischen Fakultät, sondern in einem Kloster, wo die orthodoxe Tradition empirisch und als geistlicher Kampf gelebt wird. In der Welt kann man, in besten Falle, durch ein Studium eine fragmentarische Kenntnis dessen gewinnen, was wir kirchliche Tradition nennen. In einem zönobitischen Kloster dagegen erlebt man die Theologie der Kirche als das Ein  und Ausatmen des kirchlichen Organismus, und zwar durch die eigene Erfahrung als ein existentielles Ereignis. «Die Kirche Gottes lebt nicht mit Meinungen, sondern durch die Erfahrung der Heiligen» sagte der Metropolit von Ochrid Nikolaj Welimirovitz. Die Tradition der Kirche wird dort geoffenbart, wo es asketischen Kampf gibt, wo Heiligkeit erkennbar ist. Deswegen sind die Kirchenväter und Kirchenmütter aller Zeiten die authentischen Träger der kirchlichen Tradition und diejenigen, die die kirchliche Tradition zum Ausdruck bringen können, weil sie an der kirchlichen Gemeinschaft in einer echten und vollkommenen Weise Anteil haben. Deswegen versteht die Or­thodoxie die christliche Gegenwart nicht als einen sterilen Bezug auf die Vergangenheit der Kirche,  Berufung auf das Zeugnis einer einmal in der Vergangenheit schehenen Tat Gotteis, ************  sondern als eine ständige weitere Geschichte der Kirche daran zu messen hat.

Die Tragik aller Häretiker besteht darin, daß sie die kirchliche Tradition rein rationalistisch verstehen und nicht als eine Person, die in der Geschichte in den Personen der Heiligen weiterlebt, nämlich die Person Christi. Wer Christus als lebendige Tradition annimt, der bejaht auch jene Seiten der kirchlichen Tradition, die ihm als unmöglich und vernunftwidrig scheinen, (vgl. was Tertullian sagte: credo, quia absurdum est!). Das dogma «sola Scriptura» z.B. zeigt den bis zu einem gewissen Punkt legitimen Versuch des rationalistischen europäischen Menschen, eine sichere Basis der kirchlichen Tradition zu gewinnen. Was aber wurde damit erreicht? Man ersetzte den sich über die Kirche stellenden Papst durch einen papierenen Papst. Das geschah, weil man wegen der im 16. Jh. vorherrschenden Situation nicht begreifen konnte, daß die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen (communio Sanctorum) die «Herrin» der Schrift ist, diejenige also, die den Inhalt und den Sinn der Hl. Schrift garantiert. Die Hl. Schrift ist nichts weiter als ein geschriebener Teil der kirchlichen Tradition. Wo das Synodalsystem in der Kirche richtig funktioniert, bleibt die Kirche  als Gemeinde der Heiligen  der Faktor, der in allen Zeiten die kirchliche Tradition zum Ausdruck bringt. Alle Texte, die im Laufe der Jahrhunderte einen dogmatisch symbolischen Sinn bekommen haben, sind lediglich einfache Zeugen der kirchlichen Tradition; sie können nie als absolute Träger der kirchlichen Tradition verstanden werden. Sie zeigen uns die Grenzen der kirchlichen Tradition, nicht aber deren Ganzheit; diese wird nur in den bleibend mit Christus verbundenen menschlichen Personen erlebt.

Da die Tradition der Kirche in der Geschichte mit einigen bestimmten Formen ausgedrückt wurde, hielt man die orthodoxe Tradition für einen sterilen Traditionalismus. Theologen, die früher solche Meinungen vertraten, wie z.B. A. Harnack, haben das westliche Christentum dem Orthodoxen Osten gegenüber äußerst negativ eingestellt. Die Hl. Kirchenväter aber, die sich schon in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte immer wieder in Wort und Schrift auf die früheren Väter bezogen, verstanden die Tendenz zur Bewahrung bestehender Traditionsformen nicht als Traditionalismus, sondern als Traditionalität, als Fundamentierung also des kirchlichen Glaubens. Damit will ich selbstverständlich nicht behaupten, daß traditionalistische Tendenzen im Leben der Orthodoxie völlig unbekannt sind! Nicht selten vergißt man auch bei uns, daß die Kirche kein Museum, sondern Leben und Bewegung ist, «Wandeln in einem neuen Leben», wie es Paulus ausgedrückt hat (Rom 6, 4). Das blinde Bestehen auf vergangenen Ausdrucksformen hat nichts mit der patristischen Orthodoxie gemeinsam. Die Übereinstimmung von Vergangenheit und Zukunft in einer durch eigene Formen sich ausdrückenden Gegenwart ist die wahre «Tradition». Nur wo die Form als äußerliches Element für den Ausdruck der kirchlichen Tradition unbedingt erforderlich ist oder eine neue Form den soteriologischen Inhalt der Tradition nicht völlig und vollkommen ausdrücken kann, ist auch die Bewahrung von alten Formen absolut gerechtfertigt. Wir müssen aber zwischen Tradition und Brauch unterscheiden. Der Hl. Cyprian hat sehr richtig gesagt: «In Evangelio dominus, Ego sum, inquit, Veritas. Non dixit, Ego sum consuetudo» (P.L. 3, 1103 B). Die größte Gefahr im Bereich der Orthodoxie besteht darin, daß sämtliche historische Formen zu Idolen und Tabus werden! Es besteht aber auch die Gefahr, in einer äußerlichen Orthodoxie große Irrlehren einzuschließen. Solche Fehler können zu folgenden Verfälschungen der orthodoxen Tradition führen: a) Der Glaube kann ideologisiert werden, b) der Gottesdienst kann als Ritualismus betrachtet werden und c) anstelle einer aufrichtigen Demut und Metanoia kann das Leben der Gläubigen zum reinen Formalismus bzw. Pietismus werden.

Christus hat aber seine Kirche  auch in diesem Fall  nicht ohne Hilfe gelassen. Diese Gefahr wird durch die richtige Funktion der Erneuerung im Leben Seines Leibes vermieden.

 

2. Das Wesen der Erneuerung

Die Rede von Erneuerung «in der Kirche» hat in den letzten Jahren ihre höchste Dringlichkeit erreicht. In den rapiden Entwicklungen unserer Zeit versteht man die Kirche auch als eine weltliche Größe, die sich allen als notwendig betrachteten, aber weltlich orientierten Verbesserungsmethoden unterziehen muß ! Seit dem 2. Vatikanum ist das Wort «Aggiornamento» zum am häufigsten gebrauchten Schlagwort im westlichen Christentum geworden. Es ist natürlich wahr, daß die traditionellen Methoden im Bereich der kirchlichen Mission oft unfähig erscheinen, reife Früchte zu tragen und so in uns den Eindruck erwecken, daß wir eine gründliche Erneuerung im Leben der Kirche brauchen, um zurecht kommen zu können. Wir müssen also zunächst auf folgende grundsätzliche Fragen antworten: a. Was kann in der Kirche geändert werden? b. Wie ist die Erneuerung theologisch zu verstehen? Und c. wie sieht ein echter Erneuerungsprozeß aus?

a. Es ist bekannt, daß die Kirche nicht absolut genau definiert werden kann. Wir wissen aber, daß sie keine weltliche Größe, sondern eine gottmenschliche Realität ist, die nur empirisch, also existentiell, durch die Gnade Gottes und die Teilnahme an ihrem Leben begriffen werden kann. Die Kirche ist ein Geheimnis; sie ist das Leben des Trinitarischen Gottes in der Welt. Ihren Anfang muß man «vor allen Zeiten» in der Tiefe des göttlichen Willens suchen.

Sie wurde in die Welt gepflanzt, damit die Welt in ihr gerettet werden kann. Sie lebt also in der Welt als eine konkrete gottmenschliche Wirklichkeit, die in Raum und Zeit aktualisiert wird. Sie rettet die Welt nicht durch weltliche Mittel, sondern durch die göttliche Gnade, die sie besitzt. Wirklich helfen kann sie unserer Welt nur, indem sie die Welt fortwährend in sich aufnimmt und zum Leib Christi umwandelt. Denn nur im Leben Christi können wir gerettet und vom Tod befreit werden. Rettung also bedeutet Eingliederung in die Kirche als den Leib Christi, Verkirchlichung (nicht Klerikalisierung!), die gleichzeitig «Verchristung» ist.

In der Kirche begegnen wir zwei Elementen: Dem Ungeschaffenen und dem Geschaffenen, dem Unzeitlichen und dem Zeitlichen, dem Göttlichen und dem Menschlichen. Ersteres ist das Rettende und Heiligende, letzteres ist das Gerettete und Geheiligte. Das göttliche Element der Kirche ist natürlich unwandelbar; denn, wenn es verändert werden müßte, dann hätte die Welt nicht in allen Zeiten die gleiche Sicherheit der Rettung. Da aber in der Kirche das menschliche Element nicht unbewußt oder magisch, sondern bewußt durch seine Mitwirkung gerettet wird, darf man von der Notwendigkeit einer steten Erneuerung in der Kirche sprechen: nicht von einer Erneuerung der Kirche, sondern von einer Erneuerung in der Kirche bzw. im Leben der Gläubigen.

Die Orthodoxie redet nicht von der Erneuerung der Kirche selbst oder des Lebens der Kirche, weil die Kirche in den Personen der Heiligen durch Christus immer neu bleibt und das Leben der Kirche mit dem Christusleben indentisch ist. Lebt etwas in der Kirche, also in Christo, ist es neue Schöpfung, die keine andere Erneuerung braucht. Das, was uns altern läßt, ist die Sünde, die zur Verwesung des Todes führt. Erneuerung ist im christlichen Sinn die Fähigkeit des Menschen, sich ständig von der Tyrannei der Sünde zu befreien. Da aber in der Kirche dank der Askese und Sakramente und der darin wirkenden ewigen und ungeschaffenen Gnade Gottes immer diese Möglichkeit existiert, ist die Sünde ein bloßes Akzidenz, eine Nichtigkeit, die jeden Moment beseitigt werden kann. Das ist der Sinn der Worte des Hl. Paulus: «Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts, und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist, in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit» (Eph 4, 23/24). Solange man unter den obengenannten Voraussetzungen in Christo ist, ist man ein neuer Mensch, der nichts neues braucht, um erneuert zu werden! Das einzige, das wir als das menschliche Element des Leibes Christi in unserem Leben brauchen, ist eine ständige Rückkehr zur existentiellen Wahrheit Christi, die wir durch unsere Sünden aller Art (die momentane Häresie ist auch eine Sünde!) verlassen. Diese Rückkehr ist ein Prozeß, der ununterbrochen im Leben der Kirche abläuft und den wir Erneuerungsprozeß nennen dürfen. Unsere Erneuerung besteht also darin, daß wir uns ************** geheiligt werden zu können. Neu ist das, was ständig in Christus bleibt (2 Kor 5,17. Eph 4,2224). Das Eine-neue-Schöpfung-Sein bedeutet In-Christo-Sein, in Ihm existieren und in Ihm leben.

Es gibt also einen wesentlichen Unterschied in der Weise, in der die Welt und die Kirche den Begriff der Erneuerung verstehen und benutzen. Für die Welt ist das «Neue» eine zeitliche Kategorie; für die Kirche ist es aber eine qualitative bzw. geistige Kategorie. In der Semantik der Welt hat das «Neue» einen relativen Sinn. Es nimmt den Platz eines anderen ein und wird später wieder von einem anderen erzetzt; denn es kann das Gesetz der Veraltung nicht umgehen. In der Kirche aber spricht man von dem «ewig Neuen»; dieses ist Christus, der Immer Neue Mensch, der neue Adam. Christus veraltet nie, denn er ist das «Neue» an sich, weil Er von der Sünde völlig frei ist. Alles, was in Christus ist, ist auch neu. Echte Erneurung ist also im Verständnis der Kirche nicht das Ersetzen des Alten durch etwas Neues, sondern das In -Christo-  Bleiben, d.h. das In-der-Wahrheit-Christi-Existieren.

 

3. Die Komplementarität von Tradition und Erneuerung

Welches ist aber das Verhältnis zwischen Tradition und Erneuerung im Leben der Kirche? Das Leben der Kirche wird vom Hl. Paulus als Wachstum eines Leibes und vom Hl. Petrus als Hausbau beschrieben (1 Petr 2, 5: Und bauet auch ihr euch als lebendige Steine zum geistlichen Hause...) Es geht hier um den inneren und äußeren Aufbau des Leibes Christi, nämlich um die Vervollkommnung unserer persönlichen Teilhabe am Leben Christi, sowie um die Ausbreitung des Leibes Christi im Raum und in der Zeit, in der geographischen und geschichtlichen Dimension. Leib und Haus genießen ein echtes Wachstum, wenn sie beim Wachsen ihre Identität nicht verlieren. Wir können behaupten, daß es ein richtiges Wachstum gibt, wenn das Alte und das Neue durch ein Kontinuitätsverhältnis ihre Homogenität bzw. Homoousie behalten. Das geschieht, wenn Altes und Neues organisch miteinander verbunden werden, wenn das Neue die normale Fortsetzung des Alten ist. Anderenfalls verwandelt sich die Evolution in der Kirche in eine Revolution, bei der immer das als «neu» betrachtete ohne Zerstörung des «Alten» nicht existieren kann. In der Kirche aber kann eine Revolution nie stattfinden. Nicht nur in der Orthodoxie, die nie eine Reformation oder Gegenreformation gekannt hat, sondern auch in anderen christlichen Gemeinschaften wird eine jede Reformation als Rückkehr zur Echtheit und Originalität der Kirche verstanden, also nicht als Revolution im weltlichen Sinn!

Die Kontinuität der kirchlichen Tradition als Weitergabe des «ein für allemal den Heiligen überlieferten Glaubens» (Jud 3) soll aber nicht statisch, sondern dynamisch verstanden werden. Die Kirche darf nie in den Zustand der Selbstgefälligkeit und Stagnation geraten. Wenn die Kirchenväter die Autarkie (Selbstgenügsamkeit) der kirchlichen Tradition betonen, meinen sie damit nicht, daß das ganze kirchliche Leben in all seinen Einzelheiten weitergegeben werden soll, sondern, daß der Kern der kirchlichen Tradition, nämlich das, was die Tradition an sich ist, weiterbestehen muß. Dieser Kern muß unbedingt als christozentrische Gesinnung in die Herzen der neuhinzukommenden Gläubigen gepflanzt werden, damit er auch in Ihnen Früchte bringen kann. Die Kirche aber muß in allen neuen Situationen, Kulturen und Zeiten die geeigneten Voraussetzungen schaffen, damit ihre Tradition akzeptiert werden kann und ihre volle soteriologische Wirksamkeit behält. Denn nur, wenn das gegeben ist, kann die kirchliche Tradition die Welt retten. Deswegen pflegten die Kirchenväter, wie gesagt, nie einen starren Konservatismus. Im Gegenteil, sie waren immer für eine Erneuerung, womit sie aber die Neuinterpretation des Überlieferten meinten.

Wollen wir von den theologischen Grundlagen der patristischen Bejahung der Erneuerung sprechen, so müssen wir an Christus selbst denken. Er hat uns das Maß auch in diesem Fall gegeben. Christus, der Gesandte Gottes in die Welt, oder besser ge******************* mit uns in Gemeinschaft treten zu können. Seine Menschwerdung ist die «Übersetzung» des ewigen Wortes Gottes; Er hat sich in unsere Situation versetzt und in unserer menschlichen Sprache gesprochen, damit wir Ihn verstehen und annehmen können! Deswegen hat die Kirche den Doketismus als gefährliche Häresie verurteilt. Die Menschwerdung Christi bestimmt in absoluter Form die Gegenwart der Kirche in der Welt, und zwar besonders in ihrer Missionstätigkeit. Die Kirche muß in jeder Zeit und in jedem Raum fähig sein, ein und denselben Christus darzubieten, ein und dasselbe Evangelium zu verkünden.

Der Raum also, in dem das Erneuerungsproblem für die Kirche immer akut ist, ist der der Mission. Alle ihre Erneuerungsversuche finden zugunsten der Mission atatt. Die Kirche ist nicht so sehr eine Institution als vielmehr eine Expedition im Namen Christi bis an das äußerste Ende der Erde. Das, was die Kirche am meisten interessiert, ist, wie ihre Mission in jeder Zeit realisiert werden kann. Das Missionsproblem ist für die Kirche und ihre Theologie so wichtig, weil sich der Glaube auf eine fixierte Überlieferung stützt, welche aus einer Zeit stammt, deren Weltbild und deren gesellschaftlicher Kontext längst versunken sind. Die Menschen denken nicht zu allen Zeiten gleich; sie leben mit geschichtlich gewordenen und wieder vergehenden Sinnentwürfen. Alles hat seine Zeit, seine einmalige, unwiederbringliche Stunde. Daher ist dem Menschen nicht alles gleichermaßen zu allen Zeiten möglich. Damit ist der Grund ausgesprochen, der der hermeneutischen Frage ihre heutige Aktualität verliehen hat. Es ist die Frage, wie wir überhaupt Zeugnisse vergangener Zeiten verstehen und verständlich machen können. Besonders in unserer Zeit, in der die Technologie ihren Höhenpunkt erreicht hat, ist die Fremdheit der kirchlichen Lehre für das heutige Daseinsverständnis sehr stark spürbar. Das sich immer deutlicher abzeichnende geschichtliche Seinsverständnis des heutigen Denkens erfordert eine neue Interpretation des «Alten». Es liegt also auf der Hand, daß der Glaube als kirchliche Tradition im ständigen Voranschreiten der Geschichte einer steten Neuformulierung bedarf, damit sie im geschichtlichen Wandel der Kulturen, Sprachen und Denkformen den Blick auf das Eigentliche und wirklich Gemeinte freilegen und die Teilhabe am Heilswerk Christi ermöglichen kann.

Es geht hier um eine doppelte Aufgabe der Kirche, die wie folgt formuliert werden kann: a. Sicherung des ungehinderten Weiterlebens der kirchlichen Tradition heute und b. Aufnahme dieser Tradition auch von unserer Generation. In Hinblick auf die ersten Teil der Aufgabe ist zu bemerken, daß das Problem darin besteht, wie die Kirche trotz allem Wandel die Echtheit und Originalität ihrer Tradition bewahren, oder wie sie jedes fremde Element, das eventuell im Lauf der Jahrhunderte in ihr Leben eingedrungen ist, beseitigen kann. In diesem Fall ist die Erneuerung mit der «Metanoia» identisch. Ist die Ortskirche  mehr oder we' niger  nicht die eine katholische Kirche Christi, so kann sie nicht retten, weil sie die Menschen nicht mit Christus vereinigen kann. ^Wenn aber die nachfolgende Geschichte der Kirche mit ihrer Vergangenheit durch das Band ihrer kontinuierlichen Überlieferung verbunden ist, kann das damals Geschehene normativ für alle Zukunft bleiben.

In diesem Zusammenhang sollten wir die Häresie (bzw. Irrlehre) unter einer anderen Perspektive betrachten. Die Häresie ist keine Erneuerung  äußerlich erscheint sie zwar so , sondern die Unterbrechung der Tradition der Kirche. Häresie bedeutet Abfall des Menschen von der Kirche, von ihrer Wahrheit, von ihrer Tradition, von Christus selbst. Jede Häresie ist die Ablehnung des Wesens der Kirche, denn sie kann nicht als Neuinterpretation des überlieferten Glaubens verstanden werden. Die Häresie bietet nicht den Christus der Kirche, sondern einen Christus, der nicht Christus ist; sie bietet nicht Wahrheit sondern Lüge. Die Häresie ist Neuerung und keine Erneuerung, denn sie ändert nicht bloß einen Punkt der kirchlichen Tradition, die von ihr als Nichttradition betrachtet wird, sondern das ganze Wesen der Kirche, die nach einer derartigen Verfälschung nicht weiter als Kirche existieren  und deswegen auch nicht retten kann.

*******************  sondern die Häretiker die Konservativen sind! Alle alten Häresien z.B. haben versucht, veraltete und durch Christus vernichtete philosophische Ansichten wieder zu beleben und als kirchliche Lehre bzw. Tradition erscheinen zu lassen. Was ihnen als Erneuerung und Evolution schien, war nichts anderes als ein Rückschritt. Der Arianismus wollte z.B. die origenistischneuplatonischen Ansichten als kirchliche Wahrheit hinstellen und damit die auf Grund dieser philosophischen Spekulationen bestehende politische Struktur der kaiserlichen Monarchie kirchlich legitimieren. Die patristische Lehre über die Homoousie der trinitarischen Personen aber rettete die Möglichkeit einer personalen Gemeinschaft auf Erden und damit die personale, trinitarische Struktur der Kirche. Das kann man auch in Bezug auf moderne Häresien sagen, die fast in allen Fällen versuchen, alte Häresien wieder zur Geltung zu bringen.

Was nun den zweiten Teil der Aufgabe der Kirche betrifft, so besitzt sie ein Gesetz, das sie nicht überschreiten kann, ohne aufzuhören, Kirche Christi zu sein. Es geht um die Norm, die der Hl. Apostel Paulus für die Mission der Kirche aufgestellt hat: «Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette» (1 Kor 9, 22). Mit dem Wort «alles» ist natürlich nicht eine innere Änderung des Apostels gemeint, sondern die Anwendung der geeigneten Mittel und Methoden für seine reiche missionarische Tätigkeit. Der Bedarf einer Erneuerung der Mittel und Methoden in der kirchlichen Mission stellt ein Grenzproblem dar. Der Erneuerungsprozeß ist aber für die Kirche ein Kampf zwischen Verweltlichung und Entweltlichung, Modernismus und Konservativismus. Diese Spannung hat die Kirche seit ihrer Entstehung erlebt. Natürlich muß die Kirche beweglich und anpassungsfähig sein. Nur sollte aber der Weg der Kirche weder mit der Assimilierung an die Welt noch mit der Abwehr aller vorgegebenen Begriffe, Ideen, Gemeinschaftsformen usw. identisch sein. Es ist für die Kirche eine Schranke aufgerichtet, die sie auf den Weg in die Welt hinein nicht überschreiten kann.

Die Kirche muß immer vom Pharisäismus und vom Sadduzäismus unberührt bleiben. Sie muß in der Welt zum Heil der Welt und deshalb auch vielmals gegen die Welt sein; sie darf sich nie nach den Elementen und dem Gesetz der Welt richten, sondern allein nach ihrem Christus. Die Weltverbundenheit der Kirche führt sehr häufig zur Identifikation mit der Welt, und zwar durch die Aufnahme des weltlichen Geistes und die Übernahme von Mitteln, Methoden und Strukturen, die dem Evangelium nicht nur fremd sind, sondern zugleich es auch bekämpfen. In solchen Fällen besteht immer die Gefahr, daß das Leben des Leibes Christi genormt und bürokratisiert wird. Es ist wohl bekannt, daß viele Erneuerungsversuche des heutigen Christentums nicht überzeugend wirken; nicht die Rückkehr der Welt, und zwar der neuen Generation, in die Kirche, sondern die Versetzung der Kirche in die Welt (Säkularisation) ist ihre Folge. Wir glauben, daß viele unserer heutigen Erneuerungsversuche nicht aus der Notwendigkeit entspringen, die Menschen und unsere Gläubigen in die echte Tradition der Kirche zu führen, sondern aus dem Wunsch, mit allen Mitteln an Autorität und Einfluß zu gewinnen! Eine Erneuerung, die nicht auf dem Boden der Tradition geschieht, läuft Gefahr, zu einer katastrophalen Revolution zu führen.

 

4. Schlußbemerkungen

Es gibt also im Leben der Kirche ein dynamisches Verhältnis zwischen Tradition und Erneuerung. Während die NichtChristen das Verhältnis von Tradition und Erneuerung als Dialektik verstehen, dürfen wir Christen von Komplementarität zwischen Tradition und Erneuerung sprechen. Das ist im Leben der Kirche ganz klar zu erkennen:

a. Im Bereich des Dogmas haben die Kirchenväter eine beispielhafte Beweglichkeit gezeigt. Im 4. Jahrhundert haben sie, nach einem sehr langen Verfahren natürlich, den Begriff Homoousios angenommen, obwohl er eine sehr negative Vorgeschichte hatte (er wurde von Häretikern benutzt!); denn sie waren überzeugt, *************  Wahrheit in bezug auf die Heilige Dreieinigkeit ausdrücken konnte.

b. Im Bereich des Gottesdienstes beobachten wir viele Erneuerungen. Die kirchliche Hymnographie wurde vielmals mit neuen Gattungen bereichert, verschiedene Liturgieformen sind bis heute im Gebrauch, neue Kirchenfeste werden von Zeit zu Zeit hinzugefügt.

c. Im Bereich der Beziehungen zu den WeltOrdnungen hat sich die Kirche im 4. Jh. nicht geweigert, die Freundschaft des zum Christen gewordenen römischen Kaisers anzunehmen. Sie kann aber immer (und sie muß es!) in die Katakomben zurückkehren, wenn der Staat kirchenfeindlich ist, oder durch äußere Freundschaft sie auszunutzen versucht!

d. Im Bereich ihrer Beziehungen zur Welt und zur Zivilisation hat die Kirche vielmals Gebräuche und Denkstrukturen der Welt nicht nur bejaht, sondern auch aufgenommen (wie z.B. die Philosophie), wenn sie dadurch ihren eigenen Glauben besser aus drücken und den Menschen eher verständlich machen konnte.

Es ist letzten Endes diese Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit, die es der Orthodoxie ermöglichte, eine übernationale und alles vereinigende Kraft zu bleiben und trotz aller weltlicher Entwicklungen und sozialen Wandlungen ihre Tradition unverfälscht und unverändert zu bewahren!

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Kapitel 5 // Kapitel 7

Artikel erstellt am: 1072009.

Letzte Überarbeitung am: 1072009.

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